Am Ende wird doch noch alles gut …. Irgendwann zumindest

Endlich haben wir alles beisammen – das benötigte Benzin auf dem Schwarzmarkt in Zweiliter-Colaflaschen und mittels fast legaler „Kanisterkäufe“ a 10 Liter durch diverse Bekannte zusammengestottert. Unser offizieller „Kanisterplatz“ an der Tanke war Nr. 324!!!! Doc Christian konnte nach Beendigung der Straßen Blockaden noch pünktlich in Rurre sein und mit den Bussen kamen auch die fehlenden Medikamente rechtzeitig an.

Und nun stehen wir am Ufer und würden gern jemanden verhauen oder wenigstens anschreien! Der Rio Beni ist in den letzten Stunden 3 -4 Meter gestiegen, Holz und sogar komplett entwurzelte Bäume rasen an uns vorbei. Die schmutzig grauen Fluten schwappen über die Böschung. Es ist alles gepackt und gekauft und jetzt das! Die Hafenpolizei hat ein Befahren des Flusses strikt verboten. Laut Prognos bleibt die Alarmstufe rot für alle Flüsse in der Region für vier Tage Minimum bestehen. Jetzt reichts, nochmal eine Woche rumhängen wollen wir nicht. Gemeinsam beschließt das Team, die Kurze Medizintour auf dem Rio Beni in den März zu verschieben. Inzwischen laufen auf allen Kanälen Handyvideos von komplett überfluteten Ortschaften und sogar Großstädten, sowie abgerutschten, stellenweise weggespülten oder verschüttenden Straßen…. Da hilft nur geduldig sein, mal wieder dieses Jahr

Aber nun, im März, geht’s als verkleinertes Team (Torte ist mit den Juniors im Beracco-Camp zur Dschungelprüfung) endlich los. Die Monsterstrudel in den beiden Canyons sind zwar noch wild und riesig, aber Melwin steuert uns mit zielsicherer Routine hindurch. Im Bug sitzt Julio (Puntero und Verpflegungsmeister) und checkt die Wasseroberfläche. Sonia, unsere Zahnärztin „enthüllt“ und sortiert mit Joselo Zahnbürsten für die Zahnputzkampagnen. Doc Felipe schläft sofort ein, da er die Nacht im Hospital Dienst hatte. Ich bin erstmal völlig überrumpelt – durch das ganze Chaos hatte ich die Waldbrände völlig verdrängt – jetzt ragen an den steilen Wänden des Canyons rechts und links nur verbrannte Stümpfe aus dem grauen Boden. Und es hört nicht auf! Am Ende ist sehen wir auf der gesamten Tour, also fast 100km lang rechts und links nur verbrannte Erde. Ich weiß, der Wald wird sich erholen. Aber in Anbetracht der Dimensionen und dem Wissen um die Konsequenzen krampft sich mein Herz zusammen.

Erster Halt: Comunidad Charque – bitte alle links aussteigen. Es ist brütend heiß, der Weg schlammig von der Überschwemmung und alle schattenspendenden Bäume sind abgebrannt. Wir packen unser Material auf eine Schubkarre und ziehen los. 20 Minuten in der sengenden Sonne bei 100 % Luftfeuchte. Erst gestern bin ich aus dem kühlen Hochland zurückgekommen. Am Fußballfeld angekommen, sind die Klamotten aller pitschnass und wir feixen. Denn eigentlich schwitzen ja nur Gringos! Wir bleiben lieber unter dem hohen offenen Blechdach für die Dorfversammlungen, als uns im „Schulhaus“ grillen zu lassen. Fix schieben wir die Bänke zusammen – eine Ecke für Joselo für die Patientenerfassung, Blutdruckmessung, Entwurmen und Wiegen. Sonia braucht Licht und einen Pfosten zum Anlehnen für ihre Zahnarztpraxis. Mit Doc Felipe beziehe ich die gegenüberliegende Ecke und versuche System in unsere Medikamentenkisten zu bekommen. Dann heißt es warten und sehr geduldig sein. Erstmal dauert es, bis alle Bescheid wissen. Dann werden die Kinder nochmal durchs Flusswasser gezogen und die Dokumente gesucht. Derweil kochen unsere Gehirne unterm Wellblech und es werden interessante Ideen und Techniken ersonnen, um an kühle Luft zu kommen ;O))

Da noch kein Lehrer da ist – das Schuljahr hat auch erst vor 1,5 Monaten begonnen – sind ein paar Familien noch auf den Feldern und zu weit weg. Zu tun ist trotzdem genug. Leider wollte uns das Hospital wieder keinen Impfer mitgeben. Gegen Vier packen wir und trotten zurück zum Fluss – wenn man jetzt in kühle Fluten springen könnte!! Aber kühl ist hier nix und wir müssen weiter – gegen 19.00 Uhr wird’s dunkel. 1,5 Stunden weiter flussauf in Torewa Indigena wollen wir die nächsten zwei Nächte schlafen. Die Comunidad liegt weit weg vom Ufer – ca. 45 Minuten – aber über einen Flusslauf kann man fast bis hinfahren, so die Theorie. Und immerhin hatte der Beni ja erst Hochwasser. Als wir die Mündung des Minizuflusses erreichen, ist diese total zugesandet. Keine Chance! Enttäuscht kehren wir um und fahren ein Stück flussabwärts nach Torewa Campesino. Dorthin müssen wir unser Zeug immerhin nur 10 Minuten schleppen. Aber die „Campesinos“ sind weniger gut organisiert und vor allem gibt es außer aufgefangenem Regenwasser kein Wasser, während Torewa Indigena einen sauberen kleinen Bach hat!!! 2 x muss jeder laufen, bis alles aus dem Boot geladen und ins Dorf geschleppt ist. Es ist so heiß!! Unsere Zelte stellen wir wieder unter dem großen offenen Versammlungsdach auf. Julio richtet derweil die Küche ein. Glückseligkeit macht sich breit, als er aus einer der Styroporboxen eine eiskalte Flasche Cola zaubert. 19.30 Uhr ist es fast schlagartig dunkel geworden. Weit entfernt zuckt Wetterleuchten um uns herum. Wir hören noch nicht mal das Donnergrollen, der Schweiß strömt nur so dahin und vermischt sich mit dem Insektenschutzmittel, was die kleinen Blutsauger natürlich freut. Obwohl wir nur die Innenzelte aufgebaut haben, schwitzen wir uns alle in den Schlaf.

7.00 Uhr gibt’s Kaffee. In einer Art Morgenkühle kann man die Insektenlücke nutzen, um die zugeteilte Tasse Regenwasser pro Nase zum Waschen und Zähneputzen zu vernichten. Der Regenwassertank der Gemeinde ist so ziemlich leer. Melwin hat ein sogenanntes Peque Peque, einen kleinen Einbaum mit Zweitaktmotor, organisiert. Das ist kleiner und leichter, hat aber kein Dach und keine Sitze, der Motor kann außerdem auch im Flachwasser noch manövrieren. Nur für das Nötigste ist Platz. Wackelige Angelegenheit das Ganze. Wir hocken uns zwischen die Medikamentenkisten auf Bretter und dann geht’s mit gefühlt null Freibord wieder flussaufwärts nach Torewa Indigena. Auch heute entdecken wir niemand am Ufer des Rio Beni. Die übliche Zufahrt über den kleinen Seitenfluss ist noch versandeter als gestern. Pollo, also Huhn, wie sich unser Steuermann nennt, tuckert wieder ein Stück den Beni runter und versucht einen noch kleineren Zufluss rauf zu fahren. Klappt ganz gut. Kurve um Kurve röhrt der Motor durch dichten und ausnahmsweise mal grünen Urwald. Erste kleine Balsaflöße tauchen am schlammigen Ufersaum auf. Irgendwo hier muss die Comunidad doch sein. Plötzlich wird das Boot abrupt gebremst – wir kippen vom Sitz. Alle Mann ins Wasser! Die nächste Strecke wird geschoben. Nach einer dreiviertel Stunde erreichen wir endlich die Anlegestelle. Wir schultern Kisten und Taschen. Die Comunidad ist groß. Wir haben zwar den ganzen Tag eingeplant, aber spätestens 17.00 Uhr müssen wir den Rückweg antreten. Da die Schule noch im vollen Gange ist, organisieren wir zuerst die Zahnputzkampagne gemeinsam mit den Lehrern. Unterrichtet wird hier sogar bis zur Sekundarstufe. Während die älteren Jahrgänge sehr zurückhaltend sind, gleicht die Aktion mit der Primarstufe eher einem Unterhaltungsevent. Dafür sorgen schon die Zahnfärbetabletten – blitzeblaues Lachen überall. Verschüchterte Blicke in den Spiegel und noch mehr Lachen. Die Kleinsten schaffen es ohne unsere Hilfe nicht. Nach dem Putzen fluoriert Sonia alle bis 12 Jahre und zum Abschlussbild strahlen die Zähne wieder weiß, also zumindest bei den meisten ;o)) Derweil haben andere schon unsere restlichen Sachen zum Versammlungsdach getragen. Das hat hier sogar einen Betonboden und rundherum wird gewerkelt – nächste Woche ist Dorf Jubiläum. Da werden Gäste kommen und alle muss sauber sein! Man hat uns schon erwartet und macht kurz Pause. Da nun fast alle Männer und einige Frauen der Comunidad auf den Bänken versammelt sind, nutzt Joselo die Gelegenheit für eine kleine Ansprache. Wir wollen unseren Kooperationsvertrag über die Zahnbehandlungen mit der Gemeinde vom letzten Jahr um das Thema Zahnersatz erweitern. Seit letztem Jahr können die Bewohner der Gemeinde in Sonias Minipraxis in Rurrenabaque kommen. Dort werden Behandlungen, welche nicht während der Tour durchgeführt werden können, von uns zur Hälfte unterstützt. Auf Wunsch der Familien und da das Projekt gut funktioniert hat, werden wir das Repertoire um einfachen notwendigen Zahnersatz erweitern. Wieder soll der Patient die eine Hälfte der Kosten selbst aufbringen und wir die andere. Ein großes Dankeschön geht an die Zahnarztpraxis Doktor Mehmke und Kollegen in Chemnitz! Sie haben die Summe für den Extrafond gespendet.

Ich bekomme ein Dankeschreiben und den neu aufgesetzten offiziellen Antrag der Gemeinde überreicht. Förmlichkeit ist extrem wichtig in Bolivien. Normalerweise müsste ich jetzt auch noch eine Rede halten… Stattdessen verweisen wir auf die drängende Zeit und wollen lieber mit dem Behandeln beginnen. Wir bauen auf, während alle ihren Familien bescheid geben. Sonia und ich nutzen die Gelegenheit und laufen die 2 Minuten bis zum glasklaren Füßlein. Da es auch hier fiese Blutsauger gibt, legen wir uns einfach komplett ins Wasser. Da spülts wenigstens gleich noch den Schweiß aus den Klamotten. Glücklich tropfend starten wir die Sprechstunde in Torewa Indigena. Viel zu schnell verfliegt der erfrischende Effekt.

Es geht schlag auf Schlag. Die Gelegenheit, mit einem Arzt zu sprechen, lässt sich kaum einer entgehen. Zum Glück gibt’s nichts wirklich Schlimmes - Grippe, Durchfall, Parasiten, Knochen- und Gelenkschmerzen von der schweren Feldarbeit, Brand- und Schnittwunden, Hautpilze und aufgekratzte Stiche in Mengen. Zwei kleine Mädchen haben so viel aufgekratzte, entzündete Stiche im Gesicht und am Körper, dass Filipe spritzen muss. Das ist einfach sicherer und effektiver als Tabletten. Leider sind die Mütter dabei keine wirkliche Hilfe. Zur Ablenkung gibt’s eine extra Fingerpuppe und meinen Bert und dann muss es schnell gehen – ein Kraftakt für Arme und Gehör. Zum Glück ist es genau so schnell wieder vorbei und zwei Stunden später erscheint eine der Kleinen nochmal mit ihren Brüdern zur Behandlung und fordert vehement, dass wir ihre Brüder auch spritzen müssen. Um das zu sehen, ist sie extra nochmal mitgekommen. Zum Glück können wir sie enttäuschen ;o))

Erst 17.00 Uhr sitzen wir wieder im Peque Peque und schaukeln mäandernd dem Hauptfluss entgegen. Dank eines ordentlichen Regengusses nass bis auf die Knochen. Julio hat sich beim Kochen schon Sorgen gemacht. Aber kurz vorm Dunkelwerden fällt ein munter plappernder grüner Haufen bei ihm ein. Dank großartiger Unterstützung einer deutschen Krankenkasse trägt unsere Mannschafft grasgrüne T-Shirts, Windstopper oder Ponchos. Wir leuchten quasi. Weshalb er uns kurzerhand „equipo lechuga“ – also „Team Salatköpfe“ tauft. Der Name wird begeistert angenommen, obwohl ich mal wieder eher im Team Tomate spiele.

Wir sitzen noch lange zusammen und schwelgen in vergangenen Abenteuern. Melwin kramt eine Geschichte nach der anderen raus.

Die Nacht hat kaum Abkühlung gebracht. Bevor wir weiterfahren, ist noch Torewa Campesino dran. Früher existierte nur ein Torewa. Dann gab es Konflikte. Das indigene T. ist wesentlich besser organisiert und der Gesundheitszustand viel besser als hier. Das liegt natürlich auch am fehlenden sauberen Wasser zum Trinken und Kochen. Da mit den Bränden ein Großteil der Ernte vernichtet wurde, leiden vor allem Kinder und Mütter unter Fehl- bzw. Mangelernährung, was wiederrum anfälliger für Parasiten macht. Zudem ist Torewa seit jeher Leishmaniose-Gebiet. Unter dem Blechdach steht die Hitze, die Luft schwirrt vor Sandfliegen. Mancher hat regelrechte Elefantenhaut – ein Stich am anderen. Trotz der angespannten Versorgungssituation gibt es viele Neugeborene. Eine Mutter besuchen wir zu Hause, da sie wegen des hohen Blutverlustes unter der Geburt noch zu geschwächt zum Laufen ist. Pollo, unser Motorista von gestern, taucht mit einer blassen, viel zu dünnen, viel zu jungen Frau auf. Im Arm halten sie jeder ein Stoffbündel – Zwillinge. Das ist schon unter europäischen Bedingungen eine große Herausforderung. Noch ungläubiger werden unsere Blicke, als Joselo wegen der Patientenakte nach dem Geburtsdatum und Geburtsort fragt – 6.3.2024 irgendwo auf dem Rio Beni zwischen Torewa und San Miguel!!! Die beiden waren unterwegs ins Hospital nach Rurrenabaque. Das Hochwasser hat sie während der Fahrt überrascht. In ihrer Nussschale wäre es viel zu gefährlich geworden in den Strudeln der Canyons. In unserem gestrigen Bötchen sind die zwei Mädchen zur Welt gekommen. Pollo war völlig überrascht, als dann auch noch ein zweites Baby rauskam. Seine Frau hat sich bei ihrer Mutter vor Jahren mit Tuberkulose angesteckt. Beide haben die Behandlung im Hospital immer wieder abgebrochen. Dazu eine Zwillingsgeburt im Boot – kein Wunder, dass die junge Mutter am Ende ist. Leider können wir nicht wirklich viel tun. Weder wird sie sich schonen können, noch können wir die Lebensumstände radikal ändern. Medikamente helfen da nur bedingt. Aber Filipe nimmt sich viel Zeit. Ob es geholfen hat, werden wir erst im Juli hören. Es gäbe so viele Projekte, die man anstoßen könnte….

80% aller Babys, die wir behandelt haben, hatten noch keinen Namen. Die vorangegangene Ernte war wegen der Dürre mager, die nächste ist verbrannt, nun kam das Wasser. Wie viele von ihnen werden überhaupt je einen Namen bekommen?

Danke, dass ihr uns helft, alldem etwas entgegenzusetzen!!! Bitte bleibt dabei! Danke ans Team Lechuga für eine erfolgreiche gemeinsame Tour!

Statistik:

Behandelt wurden   mehr als 200 Patienten in Charque, Torewa Indigena, Torewa Campesino, Asuncion del Quiquibey und Embocada del Quiquibey

Es gab nur 5 Verdachtsfälle auf Leishmaniose.

Zahnärztin Sonia hat 84 Patienten gehabt.

Die jüngste Mutter war 15 – immerhin eine leichte Verbesserung im Vergleich zu den letzten Jahren.

Einen eigenwilligen record hält Justino mit 17 – 19 Kindern – so genau weiß er es nicht mehr…

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