Medizintour Rio Beni Februar 2019

Gleiches Team, gleiches Boot aber mal mit ohne Überflutung

Embocada – unsere letzte Station und wir wissen nicht, ob der Weiler erreichbar ist. Die Bewohner der Nachbarcomunidad Asuncion sind überzeugt, dass es „impossibile“ ist. Wir haben uns zwar auf der Hochfahrt am Dienstag angekündigt mit der Bitte um Hilfe beim „Wegfinding“, aber am Hochufer ist keiner zu sehen. Es liegen keine Boote hier und man sieht auch mit Adleraugen keinen „Aufstieg“. Auf den ersten Blick nur loser Sandberg oder frisch abgebrochener Uferstreifen. Aber da oben muss der Pfadeingang sein. Ein kleines Dach aus Plastikplane leuchtet schmutzigblau und die Sonne brennt erbarmungslos. Direkt an diesem Uferstreifen ist man dabei einen neuen Chaco (Dschungelfeld) anzulegen. Verkohlte und abgesägte Stämme liegen kreuz und quer. Es gibt kein Fitzelchen Schatten. Melwin und Torsten gehen auf Erkundungstour und haben Glück. An den alten Hüttenresten treffen sie auf einen Bewohner. Der erklärt sofort, dass der Pfad zu sehr unter Wasser steht und stellenweise ein einziger Schlammpfuhl ist. Das Dorf ist nach der großen Flut 2014 komplett umgezogen in höhere Gefilde, liegt jetzt 45 Minuten landeinwärts und bei bzw. nach jedem Hochwasser ist der Pfad unpassierbar. Der Señor verspricht allen Familien Bescheid zu geben. Wir laden aus und machen die Sprechstunde einfach hier. Jeder sucht sich am Rand des neuen Feldes ein Schattenfleckchen. Die Stämme bieten schöne Sitzplätze in gleißender Sonne. Unter den Bäumen steht noch der Matsch und die Feuchtigkeit macht die Hitze noch schlimmer. Mariquis (Sandfliegen) gibt’s natürlich auch noch zu Hauf. Anderthalb Stunden müssen wir mindestens noch warten! Man ist dann natürlich immer unsicher, ob überhaupt noch jemand kommt. Es heißt, einige Familien sind wegen des Hochwassers auch erstmal nach Rurre gefahren… Aber schließlich hören wir Stimmen und auf dem Pfad erscheinen Mütter mit ihren Kindern, wie die Orgelpfeifen mit Schlammspuren bis über die Knie. Sie haben uns sogar Pampelmusen mitgebracht. Ein paar Kinder sind ohne ihre Eltern gekommen, werden aber von den anderen Frauen einfach mit unter die Fittiche genommen. Joselo wirkt etwas deplatziert mit Waage, Blutdruckmesser und seinen ganzen Krankenakten mitten im Holzhaufen. Unsere Ärzte haben sich ihre „Sprechzimmer“ mit Stämmchen unter Bananenstauden eingerichtet – leider steigt die Sonne immer höher und der Schatten wird rarer. Da ich mit den Medikamenten sowieso zwischen allen hin und her schnipsen muss, brauch ich mir über Schatten gar keine Gedanken machen. Läuft bei mir! Aus allen Poren! Carlos impft gleich im Unterholz und auch Sonia hat ihre Zahnarztpraxis im immerhin schattigen Gestrüpp eingerichtet. Leider gibt es keinen stehenden Baumstamm, der kräftig genug ist. Deshalb muss immer einer von uns die Rückenlehne für die Patienten spielen – mit freiem Blick aufs Zähne ziehen! Dabei bleibt Sonia mit ihren Gummistiefeln immer wieder im Schlamm stecken.

Egal, ob Charque, Torewa arriba (oberes) und abajo (unteres) oder Embocada – keines der Dörfer hat Zugang zu sauberem Wasser. Dabei denkt man hier noch nicht mal an Wasserleitungssysteme, sondern einfach nur an einen kleinen sauberen, klaren Zufluss des Rio Beni. Alle Comunidades standen in den letzten 14 Tagen zweimal unter Wasser über 2-3 Tage lang. An den Hütten erkennen wir die Wasserhöhe – mannshoch! Da ist mit hochstellen nicht viel geholfen – die Leute krabbeln auf die Dächer und packen Hab und Gut in die Boote. Gekocht wird auf kleinen Feuern im Boot. Das Wasser dafür können sie nur aus den schlammigen Fluten nehmen. Joselo hat mit den Beniärzten und engagierten Volontären alle Dörfer mit Wasserfiltern versorgt. Die sind jetzt alle futsch, nicht nur weil sie umgefallen sind, oder der Beni sie mitgerissen hat. Zum Teil werden sie einfach nicht genutzt und somit nicht gewartet. Geht ja auch ohne Filter zur Trockenzeit. In solchen Situationen wie jetzt, ist das Gejammere natürlich wieder groß. Und Joselo wird es wieder versuchen. Joselo stellt die Filter im Hinterhof der Klinik her – einer wiegt um die 70 Kilo. Der Transport ohne Schäden ist eine der größten Herausforderungen – eine Schlepperei. Hier für Interessierte mal ein Link zu den „filtros de bioarena“ – hab’s leider nur auf Spanisch gefunden: 

Immerhin ein paar nutzen die Filter ja und mit jeder Katastrophe wird’s mindestens eine Familie mehr. Projekt Regenzeit wird das Wasserfilterprojekt jedenfalls weiter unterstützen!

Charque und Torewa arriba haben von Ihrer „Bezirksregierung“ vor zwei Jahren ein „refugio“ bekommen. Ein großes Dach auf Stelzen mit erster Etage. Dort finden die Leute Schutz. In Torewa abajo dagegen mussten die Leute wirklich in ihre Dächer klettern. Als wir ankommen, versucht man dort gerade die Schulzimmer wieder sauber zu machen. Knapp einen halben Meter hoch stehen schlamm und Sand zwischen den Bänken und Regalen. Alles dampft vor Feuchtigkeit. In den zwei Räumen mit Zementboden ist das kräftezehrend aber möglich. In den zwei anderen alten Räumen ohne Zement ist der Boden an einer Stelle aufgeschwemmt und an anderer Stelle sind nur noch tiefe Kuhlen – da geht nix mehr. Aber immerhin der Schulbetrieb läuft wieder. Immerhin sind in zwei von fünf Dörfern überhaupt schon Lehrer da! Am Quiquibey war in sieben Comunidades noch nicht ein Lehrer eingetroffen, obwohl der Schulbeginn schon einen Monat zurück lag! Dabei ist der Lehrer so wichtig – vorausgesetzt, er ist engagiert und hält sich nicht öfters in Rurrenabaque als in seiner Comunidad auf. Man sieht die Veränderungen sofort. So liegt z.B. weniger Müll rum oder es gibt wenigstens an der Schule ein erstes Plumpsklo und vor allem können die ersten Kinder ein wenig lesen. Das entspricht einem Quantensprung, wenn es um die Rezeptierung bei Medikamenten geht. Was nützt denn ein Rezept, wenn es keiner lesen kann?!? Klar, wir erklären alles, malen Bildchen auf Packung und Rezepte, aber mit sieben und mehr Kindern wird es für die Eltern nun mal unübersichtlich. Natürlich gibt’s auch merkwürdige Auswüchse, z.B. wenn eine Lehrerin mitten im Regenwald mit Kindern, die kaum Spanisch sprechen, geschweige denn lesen können, Plakate malt, dass Bolivien sein Meer zurückhaben will. Wahrscheinlich haben sie auch noch einen kleinen Protestmarsch gemacht zwischen den 4 Hütten. Irrsinn – aber wir wollen nicht mit Steinen schmeißen. Als gelernte Ossis haben wir unserer Erfahrungen mit einenden Parolen, vorgeschrieben von ganz oben.

Die extreme Feuchtigkeit fördert vor allem sämtliche Pilzerkrankungen. Klar haben wir Medikamente. Aber erstmal müsste die Haut vorher sauber und trocken sein, bzw. die Kleidung trocken…… das unsaubere Wasser ist ein Paradies für Parasiten. Wir „Desparasitieren“ alle außer Säuglingen mit einer sofortigen Einmaldosis. Dies hat den Vorteil, dass wir sicher sein können, dass die Medikamente in richtiger Dosis und überhaupt genommen werden und ich verabreiche sie mit unserem sauberen Trinkwasser – weniger Risiko. Für die Kleinkinder von 2 bis 4 Jahren gibt’s das alles als süßen Saft in einer kleinen Spritze zum Nuckeln. Der Trick mit den Luftballons als Prämie funktioniert bei vielen ganz gut aber die Saftspritze führt immer wieder zu hysterischen Anfällen. Leider sind die Eltern meist keine große Hilfe. Manchmal habe ich Glück und die ersten Tropfen überzeugen und auf einmal nuckelt der Zwerg friedlich – manchmal geht’s nur unfriedlich – dabei bin ich doch gar nicht der Impfer!?!? Auch eine einfache Personenwaage kann zu Szenarien führen, die an Mord und Totschlag denken lassen. Der Geschrei Pegel während der Arbeit ist wirklich beeindruckend. Dazu die menschliche Nähe – immerhin ist das ganze Dorf vor Ort(20-30familien), teilweise um/ in einem Raum ohne Fensterscheiben und Türen, ohne spanische Wände, teilweise ohne Raum sogar, weil es nur ein Schutzdach oder eine Baumkrone gibt. Man kann gar nicht dicht genug rangehen an Sonia, die gerade einen Zahn zieht. Während es rundherum laut ist, ist es um so schwieriger die Patienten zu verstehen. Viele Mütter sprechen gar nicht oder nur ganz leise oder sind immer wieder abgelenkt, weil eins der vielen Kinder ausbüchst. Es ist Schwerstarbeit, eine Diagnose zu stellen und selbst Max, als Bolivianer, verzweifelt manchmal – es sind aber auch seine ersten Erfahrungen im campo. Er kommt eigentlich aus der Hauptstadt Sucre, selbst Rurre ist eine andere Welt wie das hier. Linnea ist von Deutschland her natürlich auch eine ganz andere Arbeitsweise gewohnt – zum Glück hat auch sie eine Engelsgeduld und lässt nicht eher locker, bis sie auch dem letzten Sohnemann entlockt hat, ob ihm was weh tut. Um so besser, wenn manchmal die Diagnose auch „patient sano“ (gesund) lautet.

Erstaunlich ist für uns die Schmerztoleranz der Dörfler. Brüllen manche Gören schon, weil sie auf die Waage sollen, ertragen andere Schmerzen um so stoischer. Celso ist 8 Jahre und trägt Tonsur – nicht freiwillig. Er hatte drei Boros (Falter Larven) unter der Kopfhaut. Die Boros zu entfernen ist kein Hexenwerk und tut auch nicht weh – haben Torte und ich ja schon selbst ausprobiert. Aber danach hat die Familie die offenen Stellen nicht keimfrei halten können, zudem ist Wasser eingedrungen. Jedenfalls hat er riesige Beulen auf dem Kopf und die Haare sind weg. Max punktiert die Beulen, zieht spritzenweise Flüssigkeit heraus. Der Junge Held erträgt alles ohne Tränen. Keiner muss ihn festhalten. Weil er von Anfang an so ruhig war, konnte Sonia ihm sogar etwas Betäubungsmittel spritzen. Die Prozedur dauert ewig – kein Laut! Über die Abszesse habe ich ja letztes Mal schon geschrieben….

Zwischen den Patienten in Torewa abajo entdeckt Linnea einen alten „Bekannten“ aus der Sprechstunde in Rurre. Nachbarn hatten ihn mit einer ungeheuerlich großen Wunde am Fuß zu ihr gebracht. Wochenlang muss er sich schon gequält haben, bis seine Nachbarn es nicht mehr mit ansehen konnten und ihn ins Boot gepackt haben. Linnea hat getan was sie konnte und meinte, die Wunde hätte sich auch schon gebessert. Nach 14 Tagen Rurre wollte/musste er aber zurück in sein Dorf. Er muss ja von irgendwas leben und irgendwo schlafen… Am ersten Vormittag war er zwar kurz unter den Wartenden, kam aber nicht in die Sprechstunde. Also haben wir ihn am Abend gesucht und ihm das Versprechen abgenommen, am nächsten Morgen unbedingt zu uns zu kommen, um den Fuß angucken zu lassen. Leider ist die Verständigung mit Cesare sehr schwierig, er spricht kaum. Als Max den gammlig feuchten Lappenverband von seinem linken Fuß wickelt, steigt ein derartiger Gestank auf. Er füllt den ganzen „Raum“ aus. Was drunter ist, habe ich noch nie gesehen – ein einziger aufgeweichter offener Klumpen. Die Zehen bekommt Max auch nach der Desinfizierung und vorsichtigem Aufweichen nicht auseinander! Linnea besteht darauf, dass es am Anfang noch schlimmer war. Wie schlimmer? Die einzig reelle Chance auf Heilung bestünde in einem Krankenhausaufenthalt…. Wir könnten auch von einer Reise zum Mond reden. Hier in Torewa besteht kaum Aussicht auf Besserung. Gummistiefel (er hat sogar welche) würden zwar den Fuß vor Dreck schützen und beim Arbeiten im Wasser vor Feuchtigkeit, aber das Klima in Gummistiefeln lässt die Wunde auch nur nicht trocknen. Sandalen+ Verband sind luftiger – aber überall stehen Restlöcher mit wasser. Die Pfade sind schlammig. Allein schon die Wiese ist jeden Morgen und Abend feucht. Cesare muss sich um sein Feld kümmern. Er hat keine Familie, muss arbeiten um zu essen. Es ist Erntezeit. Es gibt wirklich keinerlei Möglichkeit den Fuß trocken zu halten. Endlos diskutiert Linnea mit Max die Möglichkeiten wenigstens zu lindern. Zum Glück hat Linnea so hartnäckig nach Cesare gesucht und überstimmt auch jetzt die Bolivianer. Mit Verbandsmaterialien aus Deutschland, die etwas wasserresistenter sind, kann man die Zeit bis zum Ende der Überschwemmungen und starken Regenfälle vielleicht überbrücken und vielleicht kann man den Fuß doch retten! Vielleicht! Wir habens wenigstens versucht. Über die Schmerzen will man gar nicht nachdenken!

Um die dreihundert Patienten haben wir behandelt in diesen 4 Tagen, haben Zähne geputzt, fluoriert und nicht nur gezogen, haben Zahnbürsten und Zahnpasta verteilt, geimpft und Joselo hat ein paar der übriggebliebenen „Bioarena-Filter“ wieder gangbar gemacht. Vielen Dank an unsere Dschungelärzte, die sich jedes Mal mit Enthusiasmus in diese sogar nicht romantische „Klinik unter Palmen“ stürzen! Vielen Dank an Adalit und Melwin, die uns heil durch die Fluten manövriert haben! Nächte im Boot verbracht haben, damit es weder weggerissen noch trockengelegt wird! Und nicht zuletzt ein großes Dankeschön an euch alle, die ihr uns seit Jahren unterstützt! Das Projekt Regenzeit wird gebraucht!