Wir treffen uns Samstag gegen Elf im Regenwald, dritte Palme links…

Wäre schön, wenn´s klappt ;o)) ….leider stehen wir ganz alleine am Ufer des Rio Beni mit unserem Boot. Ok, Punktlandungen sind nicht üblich, „tipo 11.00 Uhr“ kann auch 11.30 Uhr sein und man ist trotzdem nicht zu spät. Inzwischen haben wir die Medikamentenkisten das Steilufer rauf geschleppt, nebst Zahnbürsten, kiloweise Zahnpasta, Instrumenten usw. Wir triefen in der Mittagssonne. Hoffnungsvoll lauschen wir in die grüne Wand, warten auf Helfer mit Schubkarren. Aber es kommt keiner! Dabei haben wir so einigen Bescheid gesagt – den ersten vor 2 Wochen, den letzten gestern. So ein Telefonnetz ist schon eine feine Sache – gibt’s hier aber nicht! Früher lagen die Dörfer direkt am Ufer des Rio Beni. Aber inzwischen wurden einige Comunidades im sicheren Abstand neu angelegt oder der Flusslauf hat sich krass verändert. La Embocada, an dessen Anlegeplatz wir jetzt warten, liegt 25 Minuten landeinwärts. Klingt nicht viel, aber niemand würde auf die Idee kommen, 25 Minuten lang in der Sauna mit Dampfbad hin und her zu laufen mit einer Kiste Medikamente auf dem Kopf oder schwerem Rucksack. Genau dies werden wir jetzt tun. Der Weg ist zumindest frei gehauen und gut erkennbar und erstmal trocken. Die Schikane kommt kurz vor Schluss – ein ca. 300m langer, 1,5-2m hoher, wackeliger Laufsteg mit einem mehrere Meter langem breiteren oder 2 schmaleren Brettern über Tümpel, Schlamm und ähnliche Moskitoparadiese. Alles wankt und schwankt. Wahrscheinlich wäre ich mit einer Schubkarre schon längst vom Steg gekippt! Endlich angekommen, werden wir freudig empfangen … keiner hats Niemandem weiter gesagt…. Wir dachten Freitag....  Egal, es ist das letzte Dorf auf der Route unserer kurzen Medizintour. Wirklich jeder freut sich auf ein kaltes Getränk und die erste Dusche nach 4 Tagen in Rurre.

Dienstag früh gings los. 8.30 Uhr war unser Boot startklar. Leider haben uns sowohl das Hospital in Rurre als auch San Buena keinen Impfer mitschicken wollen. Hier wird der Teufel niemals seine Großmutter erschlagen müssen…

Doc Christian, Zahnärztin Sonja, Joselo, Melwin am Motor und Adjudante Pablo am Kocher „stechen gemeinsam mit uns in See“. Der Beni ist ruhig, die Fahrt durch die Canyons entspannt. Langsam hebt sich der Morgennebel, eine dicht bewaldete Hügelkette nach der anderen schält sich in der Morgensonne aus dem Dunst. Herrlich! Obwohl – eigentlich ist es überhaupt nicht gut, dass der Rio Beni zu ruhig ist. Es ist Regenzeit, der Fluss viel zu flach und seit Beginn der Regenzeit im November hat es überhaupt im Januar zum ersten Mal etwas geregnet. Die Leute sind sich einig, dass das Klima völlig verrücktspielt – aber das Thema fangen wir jetzt lieber nicht an!

Heute stehen Charque und Torewa Indigena auf dem Plan. Nach 4 Stunden Fahrt flussaufwärts beginnen wir nach der richtigen Anlegestelle von Charque Ausschau zu halten. Melwin hat im letzten Jahr mehrere Monate in Riberalta als Bootsmann arbeiten müssen. Es gab immer noch keine Touristen und somit keine Arbeit in Rurre. Er war also länger nicht hier oben. Joselo und die Ärzte waren im Juli das letzte Mal hier und da sah noch alles anders aus. Wegen des fehlenden Regens gibt es viele große Inseln, dazwischen passierbare und unpassierbare Wasserarme. Natürlich wollen wir so nah wie möglich an der Schulhütte anlegen. Leider sehen wir keine Menschenseele. Nach ein paar Ehrenrunden entdecken wir endlich 3 Boote am Ufer und 2 Schubkarren. Die nehmen wir! Fußmarsch durch die Urwaldsauna mit extra Metern im Pfadgewirr. Ich kenn da einen guten Umweg!!! Endlich eine Hütte! Torte hat schon meterlange Arme von der Schubkarre und flucht – das war sogar ein richtig guter Umweg ;o)

An der Schulhütte angekommen, ist gerade Schulschluss. Sofort helfen uns die beiden Lehrer das Gewusel zu sortieren. So kann Sonja gleich mit der Zahnputzschule beginnen, bevor alle davon stieben. Während Joselo und Torte die Spiegelbilder blitzeblauer Zähne einfangen und für viel Gelächter sorgen, mache ich mich auf die Suche nach Zahnputzwasser. Wasserleitungen gibt’s nicht. Der Mini-Bach am Weiler ist fast ausgetrocknet, das Flusswasser nicht wirklich gesund. So oft es geht, sammeln die Bewohner Regenwasser. Ich schöpfe etwas davon in einen Eimer. Für die Medikamente verwenden wir mal lieber das mitgebrachte Flaschenwasser.

Sonja demonstriert inzwischen die Putztechnik. Der Rest des Teams hilft bei den ganz Kleinen nach. In vormals blitzeblauen Schnuten leuchten nun überwiegend weiße Zähne. Fluor oben drauf und ein erster Kontrollblick Sonjas, ob Handlungsbedarf besteht. Alle erhalten die Aufgabe, auch in den weiter entfernten Hütten Bescheid zu geben. Die Beni-Ärzte sind da! Die Chemie stimmt, die Handgriffe sitzen – wir sind sofort wieder das eingespielte Team. Melwin kommt gerade im rechten Moment vom Boot mit einem Krug eiskalter Limonade. Was Besseres gibt’s gar nicht! Er lacht sich schlapp, als wir von unserer Zickzack-Tour erzählen. Dann passiert erstmal lange gar nix – auch Warten haben wir in den letzten Jahren gelernt. Mhm, ist doch keiner weiter da? Und plötzlich geht’s los. Manche waren noch auf dem Feld. Und natürlich mussten alle erst nochmal gewaschen werden. Glänzende pechschwarze Haare, strahlende Augen, frische Klamotten(letzteres hat sich schnell erledigt bei den Kids). Ein paar der kleineren Knirpse schauen eher skeptisch, verstecken sich hinter den Beinen der Mütter. Ein paar erinnern sich wahrscheinlich an die blöden Spritzen/Impfen. Bei denen gibt’s dann schon beim Anblick der Personenwaage hysterische Anfälle. Mit „Doktor Maus“ (Doc Raton), meiner Fingerpuppe, kann ich aber die meisten zur tränenlosen Einnahme der „Wurmkur“ überzeugen. Mama und Papa müssen ja auch tapfer sein! …und die bekommen keine Luftballons von Doc Raton!

Ruckzuck sind 4 Stunden rum. Wir müssen los, wenn wir Torewa Indigena noch vor der Dämmerung erreichen wollen, um den schmalen Kanal zu finden. Angeblich können wir durch den fast bis zum Dorf reinfahren. Der Rückweg zum Boot war zum Glück direkter. Trotzdem kochen die Gummistiefel. Im Fahrtwind können sie bissl ausmüffeln. Socken, Hemden, Hosen – alles das erste Mal klitsch nass geschwitzt. Auch deshalb wollen wir heute so gerne nach Torewa Indigena. Dort gibt es eine Wasserleitung!!!!! Euphorie macht sich breit :o) Nach einer Stunde isse wech! Der kleine Kanal hat viel zu wenig Wasser für unser schweres Boot und den Motor. Selbst wenn wir heute Abend noch durchschleifen, wenn es nicht regnet, kommen wir nicht wieder raus! Fußweg über Land 45 Minuten mit allem Gerassel fällt aus. Also schlafen wir wieder in Torewa Campesino, 2 Kurven flussabwärts ohne Wasserleitung. … und wir müssen die Sachen alle reinschleppen. Vielleicht gibt’s ja Schubkarren. Inzwischen türmen sich fette Gewitterwolken um uns herum. Wir sollten uns sputen. Wir finden den richtigen Ausstieg. 2/3x muss jeder hin und her laufen, trotz Schubkarre. Wir bauen Kochstelle und Zelte unter einem riesigen Schutzdach auf. Vorher kontrollieren wir den Boden auf Blattschneideameisen. Ein paar Halbstarke spielen Fußball. Wir kämpfen mit den völlig erodierten Reißverschlüssen einiger Zelte. Die Dinger sitzen einfach fest – auch Cola hilft nicht. Dann steht plötzlich ein junger Mann vor uns – Notfall: „Ein Stachelrochen hat jemanden gestochen!“. Wir versuchen die Informationen nach; Was genau? Wann? Wer? Wo? zu strukturieren. Ein Stachelrochen hat seinen Onkel gestochen, als er auf ihn draufgetreten ist. Heute Nachmittag an einem kleinen Zufluss in der Nähe vom Quiquibey. Wo ist der Onkel jetzt? Noch dort… Schei…! Das ist über 2 h flussabwärts und es ist fast dunkel! Der Schmerz ist höllisch, aber viel schlimmer ist, dass der abgebrochene Stachel heftige Entzündungen auslöst. Der muss schnellstens raus!!! Dafür haben wir aber nicht das Equipment. Natürlich ist man hin und her gerissen – will unbedingt helfen. Aber sein Onkel muss schnellstens in ein Krankenhaus, also nach Rurre. Ohne eignes Boot wären wir jedoch handlungsunfähig. Es ist viel besser ein kleineres Boot zu schicken. Der junge Mann fragt nach ein paar Litern Sprit. Die haben wir in Reserve. Doc Christian sucht derweil ein Schmerzmittel und Entzündungshemmer raus nebst Spritze. Der junge Mann wird sie seinem Onkel setzen. Das mag für westeuropäische Verhältnisse befremdlich klingen, verschreibungspflichtige Medikamente als Injektion für einen Laien. In Bolivien, einem Land, wo es meist keinen Arzt gibt, ist das nichts Ungewöhnliches. Spritzen lernen die Jungs bei der Armee. Das rettet Leben. Wir hören gerade den Motor davontuckern, als wieder ein Mann zwischen den Zelten aus dem Dunkeln tritt. Er spricht unheimlich leise.

„Einer Frau geht es ganz schlecht, Blut kommt raus“ – dabei deutet mit den Händen immer wieder Richtung Gesicht oder doch Nase? Sonja hat lange hier gelebt und hakt nach. Sie kennt Ihn. Wir vermuten zuerst hämorrhagisches Denguefieber. Es grassiert gerade eine schlimme Dengue- Epidemie im östlichen Tiefland. Es wäre überall Blut. Das Haus ist nur 100m entfernt. Mit Taschenlampen stiefeln wir zu dritt los, unsicher, was uns erwartet. … besser so…. Es ist stockdunkel. Die Hütte ist eine Art Verschlag in 1m Höhe über dem Boden (wegen der Überschwemmungen), 3x3m, nach einer Seite offen. Unter dem niedrigen Palmendach steht die Luft und flirrt nur so von Moskitos. Das Moskitonetz liegt mit einem Wirrwarr aus Tüchern oder Kleidungsstücken am Boden. Im Dunkeln kniet ein Mann mit dem Kopf seiner Frau auf den Knien, daneben kauert ein etwa zehnjähriges Mädchen. Ihr geht es nicht gut ist drastisch untertrieben!! Sie ist mehr tot als lebendig. Christian kann den Puls kaum noch finden, das Herz schlägt nur noch schwach. Die Extremitäten sind bereits klamm und kalt. Geduldig versucht er rauszufinden, was passiert ist. Jetzt dämmerts uns – auf den Sachen ist Erbrochenes und hinter dem Rücken der Frau entdecken wir jede Menge frisches Blut auf den Tüchern. So viel Blut. Kein Wunder, dass wir aus den Männern kaum eine Information herausbekommen. Das ist Frauensache. Das Wort Abort versteh ich. Seine Frau hat gerade ein Kind verloren, hatte eine Fehlgeburt. Es war ihre 11. Schwangerschaft! Als ich Christians Anweisungen und Wünsche entgegennehme, weiß ich noch nicht, was jetzt gleich passieren wird. Ich verstehe nur Saubermachen und Spritzen und Hospital. Sonja kümmert sich um die Injektion. Ich besorge sauberes Wasser, Alkohol zum Desinfizieren und mehr Licht. Dann soll ich verhindern, dass die Frau einschläft. Christian erklärt dem Vater, dass er bleiben und den Kopf seiner Frau auf seinen Knien betten soll, während sie sich in Geburtsstellung auf den Rücken legen soll. Wir haben keine Zeit, auf andere Frauen zu warten. Sonja führt derweil die Kleine weg. Nach der Injektion sollten wenigstens die Schmerzen erträglicher werden. Statt einer Infusion können wir ihr nur Kokosmilch einflößen, natürlich können wir so den Blutverlust nicht ausgleichen! Sie darf jetzt nicht einschlafen. Jetzt verstehe auch ich. Es ist noch nicht alles raus. Ich bin das OP-Licht und soll die schwirrenden Moskitos wegscheuchen, also muss ich zuschauen. Gynäkologische Instrumente gibt es nicht. Es bleiben nur die Hände. Bei der Plazenta schlucke ich schwer, ich dachte, es wäre der Embryo und mehr beschreibe ich jetzt nicht. Heimlich hatte ich mir immer gewünscht, mal eine Geburt zu erleben. Auf das hier war ich nicht gefasst. Zum Glück hat man in dem Moment gar keine Zeit, nach zu denken. Man funktioniert.

Christian konnte der Frau zumindest Erleichterung verschaffen. Aber er konnte nicht alles entfernen. Wir reden eindringlich auf ihren Mann und ihren Sohn ein, sie muss noch heute Nacht ins Hospital!! Sie muss operiert werden und sie hat viel zu viel Blut verloren. Hier überlebt sie nicht. Es ist fast Vollmond. Das Licht reicht aus.

Ich möchte raus aus dem Verschlag und ins Freie, aber auch das Saubermachen gehört noch dazu…

Die nächste Stunde warten wir nervös, halten Ausschau nach Taschenlampenlicht. Endlich erfasst unser Lichtkegel die Familie nebst Schubkarre, dann das erlösende Tuckern des Motors. Sie sind wirklich losgefahren. Bis zu dem Moment konnten wir uns da nicht so sicher sein…

Alle atmen sichtlich auf. Als in der Nacht der Regen einsetzt, ist das Boot längst in Rurre und wir liegen in den Zelten. Morgen wartet ein neuer Tag mit viel Arbeit und hoffentlich ohne Notfälle auf uns!

Unsere Bitten werden erhört. Die restlichen 3 Tage werden anstrengend aber es gibt keine weiteren wirklichen Notfälle. Torewa Indigena, Torewa Campesino, Asuncion del Quiquibey sind die größten Comunidades auf unseren Medizintouren. In Asuncion behandeln wir bis weit nach Sonnenuntergang – dank Solarpaneel gibt es Licht. Die Dengue-Epidemie hat das nördliche Tiefland um Rurre zum Glück nicht erreicht – bis jetzt.

Samstagnachmittag landen wir drecksch, aber zufrieden im Hafen von Rurre. Wir haben nur einen Tag Zeit zum Putzen, Abrechnen, Einkaufen, Waschen, Umpacken. Montag geht’s wieder los.

Für den nächsten Bericht habe ich mehr Zeit, aber die Emotionen mussten raus. Vielen Dank für Eure Hilfe und Unterstützung. Ohne unser Team vor Ort und eure Unterstützung wäre eine medizinische Hilfe in den Dörfern unmöglich. Nur deshalb waren wir zur richtigen Zeit am richtigen Ort! Danke!